In den westlichen Volkswirtschaften sind weitere Anzeichen für eine Desinflation zu erkennen. Obwohl die Gesamtinflation (im Unterschied zur Kerninflation) weiterhin ungewöhnlich hoch ist, zeigt der Trend eindeutig nach unten, ebenso wie andere makroökonomische Signale. Die Entwicklung folgt einem Zeitraum von fast zwei Jahren, in dem zahlreiche Zentralbanken weltweit eine restriktive Geldpolitik verfolgten, mit ein oder zwei Ausnahmen.
In den USA, dem wichtigsten Markt, ist noch nicht absehbar, ob die Wirtschaft in eine Rezession schlittern oder sich erholen wird. Es gibt für beide Szenarien glaubhafte Anzeichen. Doch eine Feststellung kann mit Recht getroffen werden: Es wurde wohl eine «sanfte Landung» erreicht.
Dies ist die Kernaussage der gemischten Meldungen vonseiten des Marktes und der führenden Zentralbanken. Während die Aufgabe der Zentralbanken nicht mehr darin liegt, den Blick stets nach Vorne zu richten (anstelle hereinkommende Daten zu berücksichtigen), liegt es im Wesen der Finanzmärkte, und allen voran der Aktienmärkte, genau diese Rolle wahrzunehmen. Heute täten viele Experten, insbesondere Ökonomen, gut daran, diese eiserne Regel zu beherzigen. Stattdessen erklären sie hartnäckig, dass «die Märkte sich irren». Eine solche Aussage ist zwar jederzeit riskant. Doch es ist wichtig, sich mit ihr auseinanderzusetzen.
Liegt ein Grossteil der Beobachter richtig, wird sich der technische Bullenmarkt bei den Aktienkursen seit Herbst 2022 als trügerisch erweisen. Verschlechtert sich die Wirtschaftslage und spiegelt sich dies in den kommenden Monaten in den Unternehmensgewinnen wider, könnten die Aktienkurse reagieren und einbrechen. Gleichzeitig könnten auch die Rentenmärkte negativ reagieren, wenn die Zentralbanken ihre restriktiven Massnahmen fortsetzen oder auch nur an ihrer Rhetorik festhalten.
Um die Rechnung noch komplizierter zu machen, setzt das Wachstum in China nur schleppend ein, womit die Erwartungen an die lang ersehnte Rückkehr der Volkswirtschaft aus dem Covid-Lockdown enttäuscht werden. Da in China keine geldpolitischen Konjunkturbelebungsmassnahmen wie in den westlichen Volkswirtschaften vorgenommen werden, besteht nach Ansicht von Experten das Risiko einer deflationären Flaute. Diese könnte bei einem denkbaren starken Verfall des Aussenwerts des Renminbi und einer Deflation, die auf andere Länder übergreift, noch verstärkt werden. Das Fehlen dieser geldpolitischen Impulse könnte eine Erklärung dafür sein, warum die Aktienrenditen und das Marktvertrauen im laufenden Jahr so schwach ausfallen. Vor Kurzem kündigte die chinesische Regierung aber Massnahmen zur Belebung des Konsums an, und die Finanzmärkte trugen dieser Ankündigung Rechnung.
Indessen setzten in den letzten Tagen die führenden westlichen Zentralbanken ihren Straffungskurs wie erwartet fort, nicht ohne die üblichen Kommentare. Diese waren Wasser auf den Mühlen beider Lager, des Marktes und der Ökonomen, wer denn nun Recht hat. Doch einmal mehr nahmen die Finanzmärkte den Zinsanstieg gelassen hin und zeigten damit erneut, dass sie geneigt sind, den Blick weit nach Vorne zu richten.
Zwar hat die Inflation den neutralen Punkt noch nicht erreicht. Doch die Aktienmärkte in der ganzen Welt legten zu, wobei es in einigen Märkten Anzeichen für Spekulation gab. Grund für diesen Aufwärtstrend ist zum Teil die Liquiditätslage, die einerseits positiv ist und andererseits die Sicht unterstützt, dass in den USA eine quantitative Lockerung nicht von der Hand zu weisen ist. Um die wichtigsten Aussagen dieses Beitrags ((67) Fed’s Shadow Liquidity Is Pumping Up New Bull Market (Here’s How) | Michael Howell – YouTube) zusammenzufassen, ist Liquidität das, was durch die Märkte und nicht das, was mittels konventioneller Geldmengenpolitik in die Wirtschaft fliesst. Dies erläuterte mir auch meine Kollegin Charalee. Liquidität sind die Zahlungsmittel und Kredite, die für Anlagen in finanzielle Vermögenswerte zur Verfügung stehen. Sie wird letztlich nicht nur durch Zentralbanken, sondern auch durch Banken und Schattenbanken bestimmt und bemisst sich anhand des Verhältnisses von Krediten zu Sicherheiten.
In der Realwirtschaft ist die Auffassung von Liquidität eine andere. Einer Schwäche steht hier häufig eine entsprechende Stärke auf den Finanzmärkten gegenüber. Die Dynamik lässt sich mit „Wackelpeter-Phänomen“ umschreiben: Geld, das Unternehmen nicht als Betriebskapital benötigen, fliesst in die Finanzmärkte, solange die Konjunktur schwach ist oder stagniert, und vice versa. Bei näherem Hinsehen wird klar, dass die Federal Reserve ihre restriktive Geldpolitik durch Begleitmassnahmen, die eine quantitative Lockerung zur Folge haben, wieder aufhebt. Die Situation ist also kompliziert. Auf den Finanzmärkten gibt es durchaus Liquidität, und es ist zu erwarten, dass es die nächsten zwei, drei Jahren auch so bleiben wird.
Während das Weltwirtschaftswachstum überraschend resilient und die Liquidität robust ist, bleibt die Frage der Bewertung. Wie wir schon mehrfach in unseren Newslettern dargelegt haben, kann der weit verbreitete Ansatz für die Bewertung von Unternehmen anhand des Kurs-Gewinn-Verhältnisses irreführend sein. Er entspricht oft nicht der Sichtweise eines Quality Growth Investors, denn je länger der Anlagehorizont, desto weniger aussagekräftig ist dieser Ansatz.
Setzt sich das Goldlöckchen-Szenario gegenüber der Bullenfalle durch, bleiben die Risiken für Quality Growth Investoren so begrenzt, wie ihre erwarteten Anlagerenditen langfristig hoch bleiben.
P. Seilern
27. Juli 2023
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